Essstörung: Verstehen, was in mir vorgeht

Sabine T. hatte sich für eine Verkaufslehre entschieden. Doch gegen Ende der Lehrzeit leidet sie unter heftigen Stimmungsschwankungen, Wutanfällen und Ess-Brech-Anfällen. Was ist nur los mit Sabine T.? Und wie entkommt sie dieser Abwärtsspirale?

Gegen Ende meiner Verkaufslehre, mit 20, nervte mich alles: die Kunden mit ihren Sonderwünschen, meine Chefin, die mich mit ihren Launen und Ansprüchen schier in den Wahnsinn trieb und der ich es nie recht machen konnte, die Berufsschule und die Aufgaben, die neben der Arbeit erledigt werden mussten, sowie meine Kolleginnen, die sich untereinander gut verstanden und bei den Männern besser ankamen. Ich fühlte mich zunehmend unterlegen, hatte Mühe, zur Schule und zur Arbeit zu gehen, fehlte mehrmals ohne triftigen Grund und wurde deshalb beinahe von der Schule geworfen. Mein Freund warf mir vor, mich wie eine unbeherrschte, egozentrische Zicke zu benehmen. Ich fand, dass er als selbstverliebter Egoist dem Fussball und seinen Kollegen mehr zugetan war als mir. Wir gingen im Streit auseinander.

Zu Hause kam es häufig zu Meinungsverschiedenheiten mit meinen Eltern. Auch meine Geschwister hielt ich kaum aus. Vor allem meine beiden Brüder. Meine ältere Schwester war besorgt und fragte nach, was los sei. Aber ich konnte die Probleme nicht benennen. Am liebsten war ich allein. Doch meine Stimmung war oft auf dem Nullpunkt. Ich war nervös und gereizt, ohne Perspektiven und all den Anforderungen nicht gewachsen. So viel Selbstablehnung, Unbehagen und so viele Missverständnisse. Was war los mit mir?

Beruhigen konnte ich mich nur mit Alkohol, und ich entdeckte die entspannende Wirkung von Essen. So begann ich, in immer grösseren Mengen zu essen. Weil ich davon zunahm, fing ich mit Erbrechen an. Das Ganze linderte kurz meine Spannungen. Hinterher fühlte ich mich jedoch noch schlechter. Die Situation zu Hause spitzte sich zu: Die Essenseinkäufe kosteten viel Geld und Zeit, und meine Eltern ärgerten sich über verschwundenes Essen. Aber niemand begriff, was mit mir los war.

Vom Lehrabschluss erhoffte ich mir eine Entlastung. Ich fand eine eigene Wohnung mit zwei netten Mitbewohnerinnen und eine bessere Stelle. Aber in den darauffolgenden zwei Jahren bekam ich die Ess-Brech-Anfälle nicht in den Griff. Ich zog mich zurück, blieb einsam und unglücklich. Gefangen in einem Chaos von Stimmungsschwankungen, Wutausbrüchen, Unsicherheit und Grübeleien. Auf Rat einer Freundin suchte ich eine ambulante Therapeutin auf und begann eine Gesprächstherapie. Ich fand sie zwar nett und war froh, mit jemandem zu reden, aber es ging mir nicht wirklich besser. Die Therapeutin riet mir zu einem stationären Aufenthalt. Nach längerem Abwägen vereinbarte ich einen Termin zu einem Vorgespräch in der Klinik Schützen Rheinfelden und trat kurze Zeit später meinen Aufenthalt an.

In den ersten Tagen fühlte ich mich in der Klinik verloren, doch ich fand dank den vielen Gruppentherapien sehr schnell Anschluss. Anfänglich wendeten meine Psychiaterin und ich in der Psychotherapie viel Zeit dafür auf, meine Situation besser zu erfassen. Schliesslich eröffnete sie mir meine Diagnose: Ess-Brech-Attacken, Panikattacken mit sozialphobischen Ängsten sowie eine emotionale Instabilität im jungen Erwachsenenalter. Die Diagnose war für mich ein klärender Schritt: Zuvor war alles sehr diffus, und ich war überfordert. Nun verstand ich besser, was in mir vorging, und ich erkannte, dass mich die Ärzte und Therapeuten nicht für verrückt hielten, sondern verstanden. Verschiedene Gruppentherapien zielten auf einen besseren Umgang mit der Krankheit ab, auf Angstabbau, verbesserte Selbstwahrnehmung und Kommunikation sowie auf die Verarbeitung belastender Erfahrungen. Darüber hinaus sollten sie helfen, die Krankheit zu überwinden. Die Therapien wurden mit verschiedenen Methoden ergänzt: Trainings gegen Essstörungen, Expositionstrainings zur Angstbewältigung sowie Skills-Trainings zur emotionalen Stabilisierung. Und ich setzte mich mit Themen des Erwachsenwerdens und mit mir als Person auseinander – auch in Gesprächen mit der ganzen Familie. Es half! Ich blieb zehn Wochen im Programm, und beim Austritt war vieles besser, aber noch nicht alles überwunden. 

Es geht mir deutlich besser. Nach dem Austritt hatte ich anfänglich Mühe. Die vielen engagierten und freundlichen Menschen in der Klinik waren mir sehr wichtig geworden und hinterliessen eine Lücke. Aber die positiven Erfahrungen gaben mir die Kraft, nicht lockerzulassen. Meine Symptome habe ich noch nicht ganz überwunden: Die Ängste und das Vermeidungsverhalten sind fast weg, gelegentlich überwältigen mich allerdings noch Ess-Brech-Attacken. Glücklicherweise viel weniger häufig. Ich fühle mich ruhiger und zuversichtlicher. Die Klinik hatte mich sehr gut auf das Leben nach dem Aufenthalt vorbereitet. Der Wiedereinstieg in den Berufsalltag ist mir gelungen. Ich besuche regelmässig die ambulante Therapie. Sie hilft mir, die Symptome weiter abzubauen und mich weiterzuentwickeln. Dank den Aktivitäten, die ich von der Klinik aus aufgebaut habe, gestalte ich meine Freizeit sinnvoller und mit viel Freude. Mit zwei ehemaligen Mitpatientinnen habe ich Freundschaft geschlossen. Im Umgang mit mir selbst bin ich geduldiger und netter geworden. Ich bin auf gutem Weg!