Depression: Zurück in ein neues Leben

Mit 58 Jahren stürzt Katharina L. von einer Leiter. Der Unfall wirft sie aus der Bahn. Dabei hatte sie in ihrem Leben immer alles aus eigener Kraft gemeistert – auch grosse Herausforderungen. 

Ich wuchs mit vielen Geschwistern auf, machte eine Lehre im Detailhandel, weil mir der Kontakt zu Menschen wichtig war. Ich zog früh von zu Hause aus, arbeitete an verschiedenen Orten und führte ein unabhängiges, abwechslungsreiches, fröhliches Leben. Mit dreissig Jahren lernte ich meinen Mann kennen. Er arbeitete auch im Verkauf. Nach wenigen Monaten heirateten wir. Schon bald kam unsere Tochter zur Welt. Sie bereitete mir viel Freude. Meine Schwiegereltern führten ein eigenes Modegeschäft, das wir einige Jahre später übernahmen. Nach über zwanzig Jahren Ehe und nach dem Auszug unserer Tochter kam es zur Scheidung. Mein Mann hatte in den vergangenen Jahren das Geschäft zunehmend vernachlässigt und sich immer weniger um unsere Tochter und um mich gekümmert. Stattdessen hatte er immer mehr dem Alkohol zugesprochen. Meine Versuche, dies zu ändern, blieben erfolglos. Nach der Scheidung zog ich weg und baute mir ein neues Leben auf. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich als selbständige Haushaltshilfe. Ich schaute regelmässig nach meinen Enkelkindern, pflegte den Kontakt zu meinen Geschwistern und unterstützte Bekannte und Freundinnen bei der Betreuung ihrer Kinder. Ich galt als die «Grossmutter für alle» und war mit meinem neuen Leben zufrieden. Und nun dieser Unfall.

Es tat gut, in der Klinik nicht die einzige Betroffene zu sein. Die Mitpatientinnen und Mitpatienten waren mehrheitlich nett und offen, das Personal verständnisvoll und hilfsbereit. Zuerst verlief die Therapien so, dass ich mich körperlich und psychisch wieder aufbauen konnte. Die Psychiaterin half mir dabei, meine Depression besser zu erkennen. Ich lernte, mich weniger zu fordern und gleichzeitig meine Energie für positive Aktivitäten zu nutzen. Die Dosierung der Antidepressiva wurde dahingehend angepasst, dass ich bald wieder schlafen konnte. So gewann ich zunehmend Kraft.

Die Ärztin, die Physiotherapeutin, die Körpertherapien und das Fitnesstraining halfen mir, Schmerzen abzubauen, meine Kondition und Beweglichkeit zu verbessern und körperlich aktiver zu werden. In der Kunsttherapie entdeckte ich, wie ich vieles klarer auszudrücken vermochte und malte mit Freude Bilder. Ich gewann an Zuversicht, wurde aber auch nachdenklich: Warum hatten sich während meiner Krankheit so wenige Freundinnen um mich gekümmert? Was ist mir wichtig in den kommenden Jahren? Wie will ich mein Leben nach dem Austritt gestalten? Die psychotherapeutischen Gespräche und der Austausch mit meiner pflegerischen Bezugsperson halfen mir, Antworten auf diese Fragen zu finden. Der Sozialarbeiter unterstützte mich zudem, meine finanzielle Situation zu klären. Sehr förderlich waren darüber hinaus die spezialisierten Therapien für den beruflichen Wiedereinstieg.

Ich bin wieder als Haushaltshilfe tätig und finanziell unabhängig. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch körperlich bin ich wieder in guter Verfassung. Die Depression habe ich weitgehend überwunden. Die ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung sowie die Antidepressiva haben mir nach dem Austritt sehr dabei geholfen. Ich habe gelernt, nicht nur für andere da zu sein, sondern meine eigenen Bedürfnisse besser wahrzunehmen und mich mehr um mich selbst zu kümmern. Meinen Freundinnen und Geschwistern musste ich mein neues Verhalten in vielen Gesprächen erklären. Dies fiel mir nicht immer leicht. Bis auf ein paar Ausnahmen zeigen die meisten Verständnis und unterstützen mich in meiner Situation. Sie sind froh, wenn ich ihnen sage, was mir wichtig ist. Die Therapie hat mir nicht nur geholfen, die Depression zu überwinden und im Leben wieder Fuss zu fassen, sondern ich fühle mich heute stärker und mit meinem Umfeld tiefer verbunden. Insgesamt bin ich zufriedener als früher.